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Naturalismus

   Der Naturalismus (ca. 1870 - ca. 1895) ist eine gesamteuropäische künstlerische und literarische Bewegung, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Natur, hier verstanden als sinnlich erfassbare Wirklichkeit und Dinglichkeit, so genau und sachlich-objektiv wie möglich darzustellen. Damit stellt er sich gegen den Realismus, der vor allem ein ideales Bild der bürgerlichen Welt zeichnen wollte. Themen des Naturalismus sind das Banal-Alltägliche, das Milieu der Verkommenheit und die Peripherie der Gesellschaft. Die Hinwendung zu dieserart Themen trieb die Ästhetik des Hässlichen voran, infolgedessen die Großstadt als Inbegriff des Hässlichen identifiziert wurde. 

   Die politische Einheit der Nation, der wirtschaftliche Aufschwung, die Umwandlung des alten agrarisch geprägten Deutschland zum neuzeitlichen Industriestaat und die gesellschaftlichen Umschichtungen (z.B. die Herausbildung des armen und ausgebeuteten Proletariats) haben den Naturalismus in Deutschland verbreitet, da dieser dem Zeitgeist entsprochen hat. Die Literatur sollte vor allem gegenwartsorientiert sein (Nubert: 22).

  Durch Fortschritte im Bereiche der Naturwissenschaften, Medizin und Technik begannen Schriftsteller wissenschaftliche Methoden, wie beispielsweise Beobachtung, Genauigkeit und strenge Objektivität, in ihre Werke einfließen zu lassen. Wie ein Arzt sollte der Schriftsteller nicht vor Abstoßendem, Krankhaften und Hässlichen zurückschrecken. Daher wird alles Metaphysische abgelehnt und die „nackte“ Wahrheit sowie absolute Wirklichkeitstreue gefordert. Besonderes Augenmerk wird auf die Schattenseiten des Lebens geworfen: das Böse, die Krankheit, die Agonie, der Tod, das triebhaft Halb- und Unbewusste, das Obszöne, die Trunksucht, das Gewöhnlich-Niedrige, die Armut, das Leben in den Mietskasernen, Arbeiterausbeutung, Ehebruch, Brutalität und Verbrechertum. Dies ist auch der Grund, warum der Mensch im Naturalismus nicht heroisch überhöht wird. Zentrale Aspekte sind unter anderem das periphere Viertel der Großstadt mit ihrer Anonymität der Masse, so dass die unterste soziale Schicht an Bedeutung gewinnt. In den naturalistischen Werken werden bevorzugt die Konflikte zwischen den Generationen bzw. zwischen den Geschlechtern behandelt (Nubert: 14-16).

  Durch die Verwendung der Alltagssprache, des Dialekts und des Großstadtjargons sollte die Wirklichkeit naturgetreu abgebildet werden (Nubert: 26). Arno Holz erklärt die Kunst in seiner Programmschrift „Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze“ (1891/1893) wie folgt: Kunst = Natur – x. Die Natur ist hierbei faktische, empirische Wirklichkeit innerhalb der Schranken von Raum, Zeit und Psychologie. Das „x“ steht für das Defizit der sprachlichen Darstellungsmittel, das im Naturalismus so gering wie möglich gehalten werden soll. Dies wird auch als „konsequenter Naturalismus“ bezeichnet (Nubert: 25).

  Der Naturalismus in Deutschland, der seine Zentren in Berlin und München hatte, wurde vor allem vom Positivismus Auguste Comtes (1798-1857) und von der Milieutheorie Hippolyte Taines (1828-1893) beeinflusst. Der Positivismus ist die weltanschauliche Grundlage des Naturalismus. Dieser sieht nur in dem unmittelbar Wahrgenommenen eine sichere Grundlage des Erkennens, wobei auf metaphysische Voraussetzungen verzichtet wird. In dieser Hinsicht war auch die Evolutionstheorie von Charles Darwin wegweisend. Die Literatur bemüht sich nun nicht mehr um das „Warum“ der Dinge, sondern um das „Wie“. Der Kern der Milieutheorie ist, dass der Mensch naturwissenschaftlich zu verstehen ist und ein Produkt der Faktoren „race“ (Erbe/Rasse), „milieu“ (Milieu/soziale Umwelt) und „temps“ (zeitgeschichtliche Situation) ist. Daraus leitet sich auch der Determinismus ab, der besagt, dass der Charakter und das Schicksal des Einzelnen durch diese drei Faktoren vorbestimmt sind (Nubert: 17).

  Henrik Ibsen hat treffend die Ästhetik des naturalistischen Theaters hervorgehoben: zum einen müsse der Zuschauer sehen und hören, „was sich im wirklichen Leben abspielt“, zum anderen sei Wahrheit „Schönheit an sich“. Damit wird der Naturbegriff zum Schlüsselkonzept. Im naturalistischen Drama sollen die Gesetze aufgezeigt werden, denen das Verhalten des Menschen unterworfen ist. Dabei werden bevorzugt „Außenseiter“ als Figuren gewählt, wie zum Beispiel Säufer, Geisteskranke, Dirnen, Bettler, Krüppel und Selbstmörder. Diese werden dann in ihrer Mimik, Gestik, Körperhaltung, Bewegung naturgetreu dargestellt (Nubert: 28f.).

  Das naturalistische Drama kennt drei Formen: das analytische Drama zeigt lediglich die letzten Auswirkungen, die Zuspitzung zur Katastrophe, während die Vorgeschichte während der Handlung offenbart wird. Dadurch können das Milieu und die Charaktere sehr breit geschildert werden. Arno Holz’ analytisches Drama „Sonnenfinsternis“ ist ein Beispiel dafür. Das Charakterdrama konzentriert sich auf die Darstellung der Charaktere, wobei die Handlung nur ein Mittel ist. Dadurch ist die Personenanzahl hier stark reduziert. Zudem werden sehr genaue Bühnenanweisungen gegeben. Aus Wahrscheinlichkeitsgründen wird die Orts- und Zeiteinheit gewahrt. Ein Beispiel hierfür ist „Der Biberpelz“ von Gerhart Hauptmann. Das Milieudrama ist dadurch bestimmt, dass die Handlung vom Einfluss äußerer Umweltbedingungen abhängt, die als Schicksalszwang empfunden werden, wie man auch in Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ beobachten kann (Nubert: 31).

  In der naturalistischen Epik lässt sich kein einheitliches Bild feststellen, da es den Naturalisten ging, sich vom Realismus in jeglicher Form abzugrenzen, um so das Stoffgebiet zu modernisieren in Hinblick auf einen Bezug zu Gegenwart. Eine Form ist der sozialkritische Großstadtroman, der vor allem das soziale Elend der Arbeiter beschreibt. Max Kretzer mit seinem Roman „Die Genossen“ sei hier genannt. Die Novelle bzw. die naturalistische Studie oder Skizze (Prosaskizze) findet hingegen eine größere Eigenständigkeit. Bei dieser Form fehlt eine Handlung, die zu einem Ziel führt, da lediglich Wirklichkeitsfragment gezeigt werden sollen. Ein Vertreter dieser Form ist „Papa Hamlet“ von Arno Holz und Johannes Schlaf. Eine Eigenart dieser Form, die man auch im Milieudrama finden kann, ist der Sekundenstil, bei dem kommentierende Erzählprosa fehlt, dafür wird alles Visuelle und Akustische durch Sprache bzw. Laute dargestellt. Das wirkliche Geschehen soll so ohne zeitliche Sprünge abgebildet werden. So herrschen bei diesem Stil Sprachexperiment vor, die sich in Satzbrocken, Atempausen, Nebengeräusche, Stammeln, Seufzen oder Stöhnen widerspiegeln (Nubert: 37-39).

   In der Frühphase des Naturalismus spielt die Lyrik eine wichtige Rolle. Die Lyriker wollen sich von den klassizierenden und romantisierenden Schablonen abgrenzen und stattdessen das Ursprüngliche in den Vordergrund heben. Beliebte Themen sind die Großstadt und die soziale Not. Die Lyrik der Zeit bereitet zum einen den Expressionismus vor, indem die metrische Gebundenheit abgelehnt wird, zum anderen wird der Jugendstil angedeutet, da die Schrift teilweise mit Schnörkeln versehen wurde und das Visuelle dominierte. Jedoch stand die Lyrik immer im Schatten von Prosa und Dramatik (Nubert: 43-49).

   Der Zerfall des literarischen Naturalismus ist in die Zeit zwischen 1892 und 1895 zu datieren, auch wenn danach noch naturalistische Werke verfasst wurden. So sahen bereits im Jahre 1891 einige Literaten bzw. Literaturwissenschaftler, wie beispielsweise Hermann Bahr oder Otto Julius Bierbaum, dass der Naturalismus nur eine Zwischenstufe zur literarischen Moderne sei, die wieder Phantasie zulasse, die dem Naturalismus gefehlt hätte (Nubert: 27).


Literatur:
Nubert, Roxana: Einführung in die literarische Moderne – Naturalismus und Jahrhundertwende 1900. Vorlesung am Germanistik-Lehrstuhl der West-Universität Temeswar, Temeswar 2008, hier S. 14-53.

 

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